Peter Nettesheim:

„Meine Holzfiguren entstehen ausgehend von einem vorgefundenen Materialstück, meistens im direkten Zugriff und mit Blick auf die Eigenart des Herstellungsprozesses. Ohne Sockel und in Lebensgröße verbindet sich im Erscheinungsbild der Arbeiten ihr Objektcharakter mit ihrer inhaltlichen Funktion zur Darstellung erlebter und erdachter Wirklichkeit.“

 

            Philipp Reichling, O.Praem.: Bewegte Ruhe, Gedanken über die Holzfiguren von Peter Nettesheim

Im Zeitalter der bewegten Bilder und der computeranimierten Cyberwelt mit virtuellen, dreidimensionalen, menschlichen Figuren überraschen die menschengroßen und teilweise kolorierten Holzfiguren von Peter Nettesheim in mehrfacher Hinsicht. Nicht virtuell, sondern real stehen dem Betrachter massive, grob bearbeitete Skulpturen gegenüber, die er nicht auf den ersten flüchtigen Blick als solche identifiziert - als ob da Menschen ganz zufällig ihrem Alltagsgeschäft nachgehen, so scheint es - mit einem Handy in der Hand, mit Schutzbrille und Kettensäge, einem Kind auf dem Arm und vielem anderem mehr. Erst ein weiterer vergewissernder Blick klärt auf, dass es nicht Wesen aus Fleisch und Blut sind, die da posieren, sondern Artefakte, Holzfiguren aus Robinienholz, Pappelholz oder anderen Hölzern.

Sind es erstarrte Formen, die dem Leben abgeschaut sind, wie man es von der Momentfotographie her kennt, zufällig, fast willkürlich eingefangen, als ob man der Schnelllebigkeit zum Trotz "die Entdeckung der Langsamkeit" entgegenstellen wollte, um den Titel des Bestsellers von Sten Nadolny aufzugreifen? Oder wird hier umgekehrt der Weg aus der Erstarrung in die Bewegung beschritten, wie es einst der elfenbeinernen Figur des Pygmalion vergönnt war, der sich enttäuscht von den Frauen abgewandt hatte und sich ein Idealbild einer Frau schuf, das an Schönheit nicht zu übertreffen war? Ovid schreibt in seinen Metamorphosen, dass der Bildhauer Pygmalion sich in sein eigenes Werk verliebt habe, es zärtlich umarmte und küßte und mit Kleidern und Schmuck zierte und sich nichts sehnlichster wünschte, als ein entsprechendes lebendes Abbild seiner Schöpfung zu finden. Die Göttin Venus, der Pygmalion beim Opfer an ihrem Fest seinen Wunsch vorgetragen hatte, erhörte die Bitte des Bildhauers und erweckte die Skulptur zum Leben, so dass die entflammte Liebe ihre Erfüllung fand.

Obgleich die Holzfiguren von Peter Nettesheim statische Gebilde sind, haftet ihnen doch etwas Dynamisches an: in ihrem Erscheinungsbild steckt die Potenz der möglichen Handlung. Als ob sie gerade im Moment angekommen wären oder eine Bewegung abgeschlossen hätten, so verweilen sie in ihrer Ruhe, um dann doch möglicherweise fortzufahren. Es ist eine gefasste Bewegung, die im Unterschied zur Momentaufnahme nicht eine unabgeschlossene Bewegung zeigt, sondern eine Ruhe festhält, von der jeden Moment aber eine neue Handlung ausgehen könnte. In diesem gelassenen Verweilen in der Ambivalenz zwischen einem schon und noch nicht liegt eine der Besonderheiten der Holzfiguren, die ihre eigene Wirkung auf den Betrachter hat und auch überträgt, wenn dieser sich selber zur Ruhe bewegt erfährt, z.B. im ruhigen Verweilen zwischen Ausatmen und Einatmen.

Die anfänglich geschilderte Irritation, ob es sich bei den Holzfiguren nicht doch um Menschen aus dem alltäglichen Leben und der bewegten Umwelt handele, lädt förmlich dazu ein, sich zu vergewissern, um was es sich bei diesen Figuren eigentlich handelt. Vergewisserung benötigt immer Ruhe und ein Wechselverhältnis von Nähe und Distanz und im Falle der Skulpturen, dass sie umschritten, also räumlich erschlossen werden müssen. Solche Art Vergewisserung und Annäherung an die Figuren von Peter Nettesheim hat auch etwas Beschauliches im doppelten Sinne des Wortes an sich, allein schon die Veränderung bei der Wahrnehmung aus der Distanz und der Nähe. Fallen die Skulpturen in einiger Distanz kaum auf und werden sogar für lebendige Artgenossen gehalten, entbirgt ihre nähere Betrachtung sie als Artefakte, deren Material grob bearbeitet ist. Erst das genaue Hinsehen läßt erkennen, dass die Oberfläche der Figuren noch Spuren des Bearbeitungsvorganges zeigt. Was in der Distanz nicht bewußt wird, das zeigt sich aus der Nähe: Die Holzmaserungen und die Formen der Baumstämme sind überlegt ausgewählt, eingesetzt und zur Erscheinung gebracht, um das Organische der menschlichen Physiognomie zu unterstreichen. Denn den dicken Holzstämmen sieht man als Laie nicht an, welche Möglichkeiten figürlicher Verwirklichung in ihnen steckt. Das Herausarbeiten der menschlichen Figuren erscheint selbst wie eine Genesis der Befreiung aus der Statik des Holzstammes in eine Dynamik der Holzfigur, aus der Abstraktion in eine Konkretion. Und damit wird auch wieder Wirklichkeit bewusst gemacht durch die Metamorphose natürlicher Vorgaben in die Form kreatürlicher, menschlicher Figuren.

Unweigerlich lädt die grob bearbeitete und die klare Maserung des Holzes aufweisende Oberflächenstruktur dazu ein, die Figuren zu betasten, so wie es der Mythos von Pygmalion beschreibt. Die grobe Bearbeitung, das nicht endgültig Ausmodellierte der Figuren, erhöht den haptischen Wert der Skulpturen, denen man sozusagen "auf die Schulter klopfen" möchte im Gegenüber vom Subjekt zum Objekt.

Es geht vor allem bei den Holzfiguren von Peter Nettesheim darum, Wirklichkeit im wahrsten Sinne des Wortes zu begreifen. Und darin berührt sich das Werk unter anderem auch einen Topos der Moderne. Angesichts des Wirklichkeitsverlustes einer medialisierten Welt, bemüht sich ein Bereich der modernen Kunst, die Wirklichkeit als solche wieder zu entdecken und zu erfahren. Neben bewußtem Hören, Riechen, Schmecken sollen in diesem Falle Sehen und Tasten dem Rezipienten dazu verhelfen, sich seiner selbst zu vergewissern. Gerade in einer Zeit der nichtgegenständlichen Kunst sowie der Computer- und Videoinstallationen wirken die Holzfiguren von Peter Nettesheim in ihrer Figürlichkeit und abbildenden Konkretheit wie Signalbojen menschlicher Identifikation. Nicht der indifferente Ausdruck einer Schaufensterpuppe, die mal für die Ausstellung warmer Winterkleidung und mal für leichte Sommermode dasteht, sondern der herbe Charakter der Figuren, der sich erst beim näheren Hinsehen zu erkennen gibt, unterstreicht, dass diese Figuren dem Leben abgerungen sind und dem Leben vorgestellt werden, um den Betrachter wie in einem Spiegel vor sich selbst zu bringen.

Noch ein weiterer Gedanke führt in den Bereich existentieller Vergewisserungen. Die Holzfiguren sind der natürlichen Witterung ausgesetzt und verändern so im Laufe der Monate und Jahre ihr Aussehen. Es sind langsame Veränderungen wie beim Entstehen einer Patina, die sich absetzt und der Vergänglichkeit allen Seins Ausdruck verleiht. Die Farbe des Holzes verändert sich, Spuren von Insekten zeichnen sich ab. Auch scheint das Holz der Figuren weiterzuleben, obgleich die Bäume selbst, aus denen sie geschaffen wurden, längst abgeholzt und damit gestorben sind. Risse in der Oberfläche und Spalten machen deutlich, dass es sich hierbei um organisches Material handelt, dem Menschen verwandt und bilden von daher wieder Anknüpfungspunkte existentieller Erfahrungen wie die der Vergänglichkeit und der stetig vergehenden Zeit.

Schließlich eine letzte Bedeutungsdimension, die in gewisser Weise einen selbstironischen Zug trägt. Die Holzfiguren leben von, in und mit dem Raum in den sie gestellt werden. Das Umfeld der Figuren ist wichtig für ihr Verständnis, mag es noch so banal und trivial sein. Ob an der Bushaltestelle oder auf dem Markt, vor einem Haus oder in einem geschlossenen Raum, immer stehen diese menschendarstellenden Figuren in Beziehungen zu dem sie umgebenden Lebensraum. Dabei sind sie jedoch nur "passive Teilnehmer" des Geschehens. Ihre Bedeutung kommt ihnen allein durch den Betrachter zu, der sie aktiv umgehen muß, der sein Verhältnis zu diesen Figuren und damit ebenfalls zu dem vorgegebenen Raum aktiv gestalten muß, indem er es ergeht.

Die Holzfiguren ruhen in sich und stehen an einem festen Ort, von dem sie aus eigener Kraft nicht weggehen können. Selbst in sich sind die Holzfiguren in Zusammenhänge eingebunden, die sie eben als Holzfiguren gerade nicht ausführen können, wie Radfahren, Telefonieren, eine Sackkarre bewegen oder Inline skaten. Wieder ist es der Betrachter, der die Bedeutung erschließen muss und zwar im Gegenüber zur unbewegten Figur, die nur die Möglichkleit einer Tätigkeit in sich abbildet. Nur theoretisch kann die Figur das, was sie vorgibt zu tun. Der Betrachter allerdings könnte es praktisch, hat er doch die Möglichkeiten, die die Figuren nur durch ihre Attribute und Körperhaltungen abbilden. Doch in einem könnten sich beide, Holzfiguren und Betrachter, entsprechen, im Moment der bewegten Ruhe.